
Es gibt Psychiaterinnen, psychologische und ärztliche Psychotherapeuten, psychosomatische und psychiatrische Kliniken und psychosomatische Rehakliniken. Aber welche Stelle ist für wen geeignet? Nachfolgend wird die Situation der fiktiven Anna geschildert, die in unterschiedlichen Stadien ihrer Erkrankung verschiedene Ansprechpartner aufsucht.
Wann zum Hausarzt?
Als ihr Bruder bei einem Verkehrsunfall stirbt, fällt die 27-jährige Anna in ein tiefes Loch. Auch zwei Monate später fühlt sie sich noch immer niedergeschlagen, antriebslos und müde. Sie schläft schlecht, wacht auf und grübelt viel. An früheren Lieblingsdingen findet sie kaum noch Freude und in ihrem Job als Steuerberaterin unterlaufen ihr ungewöhnlich viele Fehler. Zu Hause hat sie keine Lust mehr auf Sex mit ihrem Freund. Auch über Kopfschmerzen klagt sie häufig und hat weniger Appetit. Suizidgedanken hat sie nicht. In dieser Situation ist der Hausarzt die passende erste Anlaufstelle: Er kennt ihre Vorgeschichte und kann körperliche Ursachen, wie eine Fehlfunktion der Schilddrüse, Eisenmangel oder Nebenwirkungen von Medikamenten, ausschließen. Er schreibt sie für eine Woche krank und erklärt ihr, was eine Depression ist. Er gibt ihr Tipps zu Schlaf, Tagesstruktur und Bewegung und empfiehlt ihr, eine ambulante Psychotherapie zu beginnen. Wenn sich ihr Gesundheitszustand akut verschlechtert, soll sie sich wieder bei ihm melden.
Wann zum Psychotherapeuten?
Anna möchte es erst einmal ohne weiteren Arzt probieren. Sie beherzigt die Tipps ihres Hausarztes. Sie geht einmal am Tag spazieren, hat sich ihren beiden Freundinnen geöffnet und versucht, die kleinkarierte Kritik ihres Chefs nicht mehr an sich heranzulassen. Dennoch geht es ihr nach vier weiteren Wochen eher schlechter als besser. Sie findet nur noch selten Freude am morgendlichen Kaffee, liegt stundenlang wach und streitet sich mit ihrem Freund immer öfter. Medikamente lehnt sie ab. Deshalb sucht sie sich nun doch einen Psychotherapeuten. Sie findet auch vergleichsweise schnell jemanden, weil ihre Freundinnen alle 40 in der Stadt tätigen Psychotherapeuten an einem Nachmittag per E-Mail um einen Termin bitten und sich zwei zurückmelden. Dass sie auch über die Telefonnummer 116117 einen Psychotherapeuten finden kann, wissen Annas Freundinnen nicht.
Was sie ebenfalls nicht wissen: Es gibt einen Unterschied zwischen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten. Psychologische Psychotherapeuten haben ein Psychologiestudium und eine Weiterbildung absolviert. Sie dürfen keine Medikamente verschreiben und auch keinen Krankenschein ausstellen. Ärztliche Psychotherapeuten haben Medizin studiert und eine entsprechende Weiterbildung absolviert. Deshalb dürfen sie Medikamente verschreiben und ihre Klienten krankschreiben. Anna ist bei einem psychologischen Psychotherapeuten gelandet. Sie empfindet die wöchentlichen, 50-minütigen Gespräche als sehr positiv.
Wann zum Psychiater?
Dennoch bleibt die psychotherapeutische Behandlung ohne den gewünschten Erfolg. Nach drei Wochen fühlt sich Anna weiterhin matt, schläft schlecht und kommt kaum noch durch den Arbeitstag. Sie entscheidet: „Ich probiere jetzt doch Medikamente“ und vereinbart einen Termin bei einer Psychiaterin. Psychiaterinnen sind Ärztinnen, die eine fünfjährige Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie absolviert haben. Sie kennen sich daher gut mit der Wirkung der verschiedenen Medikamente aus.
In der Sprechstunde bespricht die Psychiaterin mit Anna ihre Symptome, den Verlauf der Erkrankung, frühere Behandlungen und körperliche Faktoren. Die Ärztin erklärt Anna, wie Antidepressiva wirken, dass der Effekt oft erst nach zwei bis vier Wochen spürbar wird und dass anfangs Nebenwirkungen auftreten können. Gemeinsam wählen sie ein Präparat aus, beginnen mit einer niedrigen Dosierung und planen wöchentliche Kontrollen ein. Aufgrund von Annas Schlafproblemen empfiehlt die Ärztin zusätzlich schlafanstoßende Maßnahmen. Sie schreibt Anna für zwei Wochen krank und bespricht mit ihr den stufenweisen Wiedereinstieg in den Job nach dem Hamburger Modell. Ab der dritten Woche soll Anna für vier Stunden pro Tag arbeiten, ab der vierten Woche für fünf Stunden pro Tag. So soll ihre Arbeitszeit schrittweise gesteigert werden, bis sie wieder in Vollzeit arbeitsfähig ist. Anna macht sich Sorgen, wie ihr Chef darauf reagieren wird, doch er zeigt sich überraschend verständnisvoll.
Nach vier Wochen berichtet sie ihrem Psychotherapeuten, den sie weiterhin besucht: „Ich grüble viel weniger und schlafe besser. Gestern habe ich mich beim Weckerklingeln sogar wieder auf den Kaffee gefreut.“ Die Arbeit fällt ihr noch nicht leicht, aber sie macht weniger Fehler. Sie vereinbart mit dem Psychotherapeuten, dass sie versucht, die Medikamente wieder abzusetzen, sobald sie sich dazu bereit fühlt. Sie erlaubt ihm auch, sich mit ihrer Psychiaterin auszutauschen.
Wann in die Klinik?
Anna schafft es tatsächlich, die Medikamente auszuschleichen, und führt fünf Jahre lang ein ganz normales, gesundes Leben. Doch dann wird sie auf dem Weg zur Arbeit Zeugin, wie ein zwölfjähriges Mädchen von einem Auto überfahren wird. Dieses Erlebnis erinnert sie so sehr an den Tod ihres Bruders, dass sie sofort in ihre Wohnung zurückkehrt. Sie bekommt Flashbacks, Herzrasen, kann nichts mehr essen und nicht mehr schlafen. Da sie sich inzwischen von ihrem Freund getrennt hat und allein wohnt, dauert es einige Tage, bis ihre Freundinnen von ihrem Zustand erfahren. Sie finden eine verzweifelte, dehydrierte Anna vor. Als sie Anna überreden wollen, mit ihnen in die Notaufnahme zu fahren, will Anna unter keinen Umständen die Wohnung verlassen. Die Freundinnen telefonieren mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst (SpDi) ihrer Stadt und rufen danach noch das Info-Telefon Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe an, um sich Rat zu holen.
Sie erfahren, dass Anna eine psychiatrische und keine psychosomatische Klinik aufsuchen muss. Denn bei einer akuten Krise ist eine psychiatrische Akutklinik die richtige Wahl, da in psychosomatischen Kliniken in der Regel eine geplante Therapie durchgeführt wird und keine Notfälle betreut werden.
Die beiden Freundinnen erklären Anna, was die Ansprechpartner am Telefon gesagt haben. Wenn sie sich selbst für die Aufnahme entscheidet, kann sie gemeinsam mit dem Ärzteteam über ihre Entlassung entscheiden. Außerdem könnten sie versuchen, eine gute Klinik in der Nähe zu finden. Wenn sie sich weiterhin weigert, würden sie den Notruf anrufen. Dann würde bald ein Krankenwagen mit Blaulicht kommen und sie in die zuständige Akutpsychiatrie bringen. Wenn die Ärzte dort eine Gefahr sehen, dass sie sich selbst etwas antut, können sie veranlassen, dass Anna in der Klinik bleibt, selbst wenn sie gerne gehen würde.
Anna lässt sich schließlich überreden und die Freundinnen recherchieren eine psychiatrische Akutklinik, in der die Ärzte viel Erfahrung mit ihrer Erkrankung haben. Die Mediziner sind damit einverstanden, Anna aufzunehmen, obwohl sie eigentlich nicht in ihrem Einzugsgebiet wohnt.
In der Klinik bekommt Anna schlafanstoßende und beruhigende Medikamente und einen Ernährungsaufbau. Außerdem gibt es eine feste Tagesstruktur mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen, Pausen und Einheiten dazwischen. Sie führt Gespräche mit dem Pflegeteam und erhält ab Tag vier auch Bewegungstherapie.
Nach und nach bessert sich ihr Gesundheitszustand. Die Flashbacks werden seltener und ihr Appetit kehrt zurück. Entgegen ihren früheren Befürchtungen verliert sie nicht die Kontrolle über ihre Entlassung und vereinbart den Entlasszeitpunkt gemeinsam mit dem Ärzteteam.
Ihr behandelnder Klinikpsychiater rät ihr, eine ambulante, traumafokussierte Therapie zu beginnen. Glücklicherweise hat ihr früherer Psychotherapeut einen freien Platz, sodass sie direkt nach ihrer Entlassung mit den psychotherapeutischen Sitzungen beginnen kann. Sie nimmt wieder Medikamente und kehrt langsam in ihren Job zurück. Da diese zweite depressive Episode ihr stärker zugesetzt hat als die erste, beginnt sie zunächst mit zwei Stunden pro Tag. Sie darf auch im Homeoffice arbeiten und muss erst wieder ins Büro kommen, wenn sie sich sicher ist, ohne Flashbacks durch den morgendlichen Berufsverkehr zu kommen.
Wann in die Rehaklinik?
Erneut gelingt ihr der Berufseinstieg. Anna achtet jetzt sehr genau auf ihre Körpersignale. Sie hält sich strikt an ein bestimmtes Tageschema und verzichtet weitestgehend auf Alkohol. Nach ein paar Jahren bekommt sie im November einen trockenen Husten. Sie glaubt, dass es sich um eine Erkältung handelt, und wartet ab, bis er vorüber ist. Doch der Husten ist hartnäckig und hält sie nachts wach. Der Schlafmangel führt zu einer schlechteren Konzentration bei der Arbeit. Sie besucht ihren Hausarzt, der eine organische Ursache für den Husten ausschließt und ihn als Überlastungssignal ihres Körpers identifiziert. Er schlägt vor, dass sie eine fünfwöchige Reha in einer Klinik an der Ostsee macht. Anna ist einverstanden. Gemeinsam stellen sie den Antrag bei ihrer Rentenversicherung. Oft wird Patienten eine Rehaklinik in der Nähe ihres Kostenträgers vorgeschlagen. Bei guter Begründung kann man aber auch eine weiter entfernte Klinik wählen. Da Anna im Ruhrgebiet wohnt und ihr Meeresluft guttun würde, akzeptiert ihre Rentenversicherung eine Rehaklinik an der Ostsee, die Anna im Internet recherchiert hat.
Anna muss einige Monate warten, bis ein Platz frei wird. Sie empfindet den Aufenthalt in der Reha-Einrichtung dann aber als sehr wohltuend. Im Gegensatz zur psychiatrischen Klinik, in der der Fokus auf Stabilisierung und medikamentöser Therapie lag, wird in der Rehaklinik von Beginn an nach einem strukturierten Plan behandelt. In Einzel- und Gruppensitzungen spricht Anna über die Herausforderungen in ihrem Leben, nimmt an Schlaf- und Stressprogrammen teil und erhält auch sozialrechtliche Beratung. In ihrer Freizeit geht sie am Strand spazieren. Manchmal allein, manchmal mit einigen Leuten, die sie in der Klinik kennengelernt hat.
Nach ihrer Rückkehr ist sie voller Energie. So hat sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Am liebsten würde sie jedes Jahr diese Reha-Einrichtung besuchen. Ihr Hausarzt teilt ihr jedoch mit, dass sie vier Jahre warten muss, bis sie wieder eine Rehabilitation antreten darf. Bei dringendem medizinischen Bedarf ist auch ein früherer Besuch möglich. Aber beide hoffen, dass dieser Fall nicht eintritt.
Text: Lukas Hoffmann






























