Sieglinde an einem schönen Sommertag in ihrem Garten. Foto: Michael Gallner

Sieglinde wurde vom Blitz getroffen. Sechs Jahre lang konnte sie ihre Symptome keiner Krankheit zuordnen, ehe sie endlich das passende Klinikum fand. Ein Leidensbericht.

Der 4. Juni 2008 begann für mich wie jeder andere Arbeitstag. Ich stieg am Morgen ins Auto, um in den zwei Kilometer entfernten Nachbarort zu fahren. An die Unwetterwarnung vom Vorabend dachte ich nicht, wo ich in meinen 42 Lebensjahren schon viele Gewitter erlebt habe.

Mein Arbeitsort – ein Seniorenheim – lag am Ortsrand vor den Ausläufern des herrlichen Westerwalds. Das Haus selbst war heruntergewirtschaftet. In den Gängen stank es nach Urin und die Fassungen der Steckdosen kamen aus der Wand.

Ich habe damals in der Kellerküche als Köchin gearbeitet, obwohl ich eigentlich gelernte Schneiderin bin. Es gab Kartoffeln mit Wurst, oder Nudeln mit Hackfleischsoße. Als meine Kollegin und ich die Küche an diesem 4. Juni 2008 putzten, dachte ich nicht an die Gewitterwarnung. Sie weichte die Metallfläche ein, auf der den Bewohnern des Hauses die Teller serviert wurden. Ich sagte zu ihr: „Mach hinten den Schreibkram fertig, ich kümmere mich um die Ablage.“

Ich habe nach dem nassen Spültuch gegriffen, danach verschwimmt alles. Manchmal erinnere ich mich daran, dass meine Hand festgeklebt ist, dann wiederum denke ich, dass ich sie schnell wegzog. Habe ich wirklich den Kanonenschlag gehört oder war das mein eigener Schrei?

Meine Kollegin sagt, dass ich zitternd zu ihr gelaufen bin und gar nicht aufhören konnte, zu erzählen. Sie sagte zu mir: „Setz dich auf den Stuhl und ruhe dich aus!“

Wenig später kommt der Pflegedienstleiter zu uns nach unten. Er erzählt, dass ein Blitz ins Dach eingeschlagen ist, in den oberen Etagen sei der Strom ausgefallen. Wir wunderten uns darüber, dass die Spülmaschine bei uns noch lief und die Glühbirnen nicht durchgebrannt sind. Ich habe das erst später verstanden: Als ich die Metallfläche berührte, habe ich den Stromfluss gesteuert als menschlicher Blitzableiter.

Sieglinde im Kreis ihrer Familie. ©Michael Gallner

In der Umkleidekabine ist mir die rötlich-lila Verfärbung auf meinem rechten Arm und dem rechten Bein aufgefallen. Es sah aus, als ob ich mich unter einer zu heißen Dusche verbrannt hätte. Ich war immer noch zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Zu Hause sagte mein Mann: „Besser wir fahren ins Krankenhaus.“

Die beiden Ärzte, die mich untersucht haben, waren noch jung. Sie haben immer wieder mit ihrem Vorgesetzten telefoniert, um nachzufragen, was zu tun ist. Mein EKG war unauffällig, ich hatte keine starken Verbrennungen und schien nicht verwirrt zu sein. Deshalb haben sie keinen Stromschlag diagnostiziert und mich nach Hause geschickt.

Ich bin bald wieder arbeiten gegangen, aber das Leben war plötzlich ein anderes, als ob der Blitz etwas in meinem Körper verstellt hätte. Ein paar Wochen später musste ich den Dienst abbrechen. Mein Herz raste, mir war schwindelig, ich habe entsetzlich geschwitzt. Ich war sicher, dass mein Blutdruck stark gefallen ist, wo ich Zeit meines Lebens unter einem niedrigen Blutdruck litt. Aber mein Hausarzt sagte wenig später, dass er viel zu hoch ist.

Mein Mann ist selbstständiger Malermeister, er geht früh aus dem Haus und kommt spät von der Baustelle zurück. Vor dem Blitzunfall habe ich die Buchhaltung und die Kundenbetreuung für ihn erledigt. Mathe hat mir immer Spaß gemacht und der Kundenkontakt ebenso. Aber wenn ich jetzt einen Kunden anrief, dann war oft jemand anderes in der Leitung, weil ich mich verwählt hatte. Und in meine Rechnungen und Anschreiben schlichen sich Buchstaben- und Zahlenteufel.

Bin ich kurzsichtig geworden?, dachte ich. Ich besuchte einen Augenarzt, der mir eine Brille verschrieb. Aber beim Lesen tanzen die Buchstaben weiterhin vor meinen Augen und die Telefonnummern der Kunden konnte ich mir auch jetzt nicht merken.

Schon vor dem Blitzunfall hatte ich Gleichgewichtsstörungen, aber jetzt wurden sie besonders schlimm. Als ich mein Fitnessstudio besuchte, rutschte ich fast vom Hometrainer herunter, weil mir schwindelig wurde.

Am schlimmsten war die Angst vor dem nächsten Gewitter. Sie kam manchmal in der Nacht, manchmal am Tag. Wenn es draußen tatsächlich blitzte und donnerte, bekam ich Krampfanfälle und die Schmerzen wurden unerträglich. Es fühlte sich so an, als ob mein Körper von einem Panzer umschlossen ist, der sich immer stärker zusammenzieht. Dann verfärbte sich mein rechter Arm und die Hand wurde eiskalt. Ich schrie am Anfang: „Helft mir! Bitte helft mir!“ Aber niemand in der Familie wusste, was mit mir los ist. Offiziell war ich kerngesund. Später habe ich nur noch: „Ich will sterben“ gerufen.

Ich habe drei wunderbare Kinder. Sie waren zum Zeitpunkt des Blitzunfalls neun, dreizehn und siebzehn Jahre alt. Mein Mann und ich haben früher viele Ausflüge mit ihnen unternommen. Wir sind mit dem Fahrrad zur Eisdiele in den Nachbarort gefahren. Oder in den Wäldern in der Nähe wandern gewesen. Dann gab es als Vesper meine legendären Frikadellen. Die Kinder haben sie verschlungen und mein Mann und ich haben uns angesehen und gelächelt.

Jetzt unternahmen wir solche Ausflüge nicht mehr. Ich hatte dafür keine Kraft mehr. Mein Mann musste die Kinder ins Fußballtraining fahren und die Einkäufe erledigen. Ich fuhr zwar noch mit dem Auto, aber hätte es besser stehen lassen sollen. Ich war in diesen Jahren eine Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr. Manchmal hat sich die Straße hinter der Windschutzscheibe verdoppelt, dann habe ich vier Fahrspuren gesehen und wurde zur Geisterfahrerin. Ich weiß nicht, wie viele Unfälle ich in diesen Jahren nach dem Blitzschlag gemacht habe. Es waren viele und oft beging ich Fahrerflucht.

Die Beziehung zu meinem Mann wurde schwieriger. Nachts wachte ich schweißgebadet auf und wollte, dass das alles aufhört. Ich weckte ihn mit meinen Schreien, was ihn nicht gefreut hat. Er hatte einen langen Arbeitstag auf der Baustelle vor sich. Als ich an einem Nachmittag auf der Kellertreppe zusammenkauerte und weinte, weil sich das nächste Gewitter ankündigte, rief er: „Du machst mich noch wahnsinnig!“

Die Hunde weichen heute nicht von Sieglindes Seite, wenn sich ein Gewitter ankündigt. ©Michael Gallner

Ich habe nie aufgehört, Ärzte zu besuchen. Ich bin oft zu meinem Hausarzt gegangen, der mich schließlich an einen Psychologen und einen Neurologen verwiesen hat. Mir wurde eine nicht näher bezeichnete depressive Störung mit „Schlafstörungen und nervöser Unruhe“ bescheinigt. Stimmte absolut. Aber woher sie kam, konnte mir niemand sagen.

Nach eineinhalb Jahren ist das Pflegeheim in Konkurs gegangen. Ich habe mir einen neuen Job in der Küche einer Kita gesucht. Ich mag Kinder, habe ja selbst drei. Aber der Lärm wurde zunehmend schwierig für mich. Wenn die vielen hellen Stimmchen durcheinander redeten, strengte mich das mehr an als früher.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen in herkömmliche Medikamente verloren, begann mit Naturheilmitteln zu experimentieren: Ich kochte mir Lavedeltee, nahm Globuli und alkoholhaltige Rescue-Tropfen. Ich erhöhte die Dosierung immer weiter. Irgendwann kippte ich die Fläschchen mit den Rescue-Tropfen herunter als wäre es hochprozentiger Schnaps.

Die Erzieherinnen in der Kita begannen zu tuscheln. Warum torkelt Sieglinde? Warum riecht sie nach Alkohol? Das kann ja nur eines bedeuten!

Ich wurde zum Personalgespräch in die Stadtverwaltung geladen. Unser Ort ist so klein, dass der Bürgermeister bei solchen Treffen dabei ist. Keiner hat mir geglaubt, dass die Rescue-Tropfen meinen Alkoholatem verursachen. Ja, ich habe Gleichgewichtsstörungen! Ja, ich kann mich nicht mehr konzentrieren! Und warum die rechte Hand nicht mehr richtig ihren Dienst tut und das Schälen der Kartoffeln länger dauert, weiß ich auch nicht!

Dieses Personalgespräch mit Menschen, die mich nicht verstehen können, war ein Gespräch zu viel. Auf dem Weg nach Hause habe ich einen Unfall verursacht. Wieder einmal! Ich habe Fahrerflucht begangen. Wieder einmal! Wieso hätte ich auch anhalten sollen, wo ich jetzt endlich wieder ein klares Ziel vor Augen hatte: Allem ein Ende bereiten. Schluss machen. Ich hatte die Welt lange genug ertragen. Ertragen müssen.

Zu Hause mixte ich mir einen Cocktail mit allen Tabletten, die ich fand.

Am frühen Morgen erwachte ich. Lebend, im hier und jetzt und: Panisch, wo die alte Realität auf mich niederzuckte, als hätte mich ein zweiter Blitzschlag getroffen. Ich sprang aus dem Bett, lief in die Küche. Ich weiß nicht mehr, ob ich wahrnahm, dass meine inzwischen volljährige Tochter schon am Frühstückstisch saß und ihr Müsli löffelte. Ich sah die Messer im Messerblock, kurze scharfe Klingen. Ich erinnere mich daran, dass mein Mann sich auf mich stürzte, dass wir kämpften, schrien, dass ich ihm das Hemd zerriss.

An die Polizeibeamten, die wenig später in unser Haus kamen, erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass meine Handgelenke tagelang schmerzten. Ich habe mich in meiner Panik so sehr gewehrt, dass sich das Metall der Handschellen tief in die Haut geschnitten hat.

Man brachte mich in eine nahegelegene psychiatrische Klinik. Ich sagte zu der behandelnden Ärztin: „Dieser scheiß Blitzschlag hat mein ganzes Leben verändert.“ Sie frage nach: „Was für ein Blitzschlag?“ Sie kam auf die geniale und so banale Idee im Netz nach einer Spezialklinik für Blitzopfer zu suchen.

Nachdem sich mein Zustand stabilisiert hatte, brachte mich mein Mann in das Zentrum für Blitzopfer des Bezirksklinikums Regensburg.

„Wir haben den Blitzeinschlag gemeinsam überstanden.“ ©Michael Gallner

In Regensburg lernte ich: Du vergießt Telefonnummern und machst so viele Rechtschreibfehler wie eine unaufmerksame Fünftklässlerin, weil der Blitzschlag dein Nervensystem geschädigt hat. Denn eine kurzzeitige und übermäßige Stromzufuhr kann Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen nach sich ziehen.

Ich begriff: Es gibt eine Ursache dafür, dass mein Körper sich verkrampft, wenn ich an Gewitter denke. Ich hatte Angst, noch einmal von einem Blitz getroffen zu werden und diese schrecklichen Schmerzen erneut erleben zu müssen.

In Regensburg erklärte man mir, wieso sich auf meiner Haut keine Blitzmuster eingebrannt haben – diese hellroten Verästelungen auf der Haut, die das häufigste Symptom bei Blitzopfern sind. Das Wasser auf der eingeweichten Metallfläche, die ich säubern wollte, hat die Stromstärke reduziert. Der Blitz ist nicht in mich, sondern in das Haus eingeschlagen und erst als ich die Metallfläche berührte, floss ein Teil des Stroms durch mich hindurch.

Die Ärzte in Regensburg sagten mir, wieso sich die Fahrspur beim Autofahren manchmal verdoppelte. Der Blitzschlag kann das binokulare Sehen – das dreidimensionale Sehen – beeinträchtigen. Ich beging Auffahrunfälle und verwechselte die Fahrspuren, weil die Zusammenarbeit zwischen meinem rechten und meinem linken Auge nicht mehr funktionierte.

Damals im Kreisklinikum entließen mich die beiden jungen Ärzte, weil mein EKG unauffällig gewesen ist. Hätten Sie Prof. Schalke, der das Regensburger Zentrum für Blitzopfer leitet, kontaktiert, dann hätte er ihnen erklärt, dass das EKG auch nach einem Blitzunfall normal ausfallen kann, wenn man nicht in der elektrisch sensiblen Phase des Herzens getroffen wird.

Das Wichtigste, was ich aus Regensburg mit nach Hause nahm, war aber eine Diagnose. Sie lautet: Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Das war der Beweis: Ich hatte mir das nicht alles eingebildet. Der Blitzschlag hat nicht nur mein Leben auf den Kopf gestellt, sondern auch meine Persönlichkeit verändert.

Endlich, nach über sechs Jahren, kam ich in eine Rehaklinik, um die Folgeschäden des Blitzes zu behandeln. Ich war erlöst, aber auch sehr müde. Als ich abends im Bett lag und mit einer Freundin telefonierte, fuhr ich mit meiner Hand immer wieder über die rechte Brust. Ich wusste nicht, wieso ich das tat. Irgendwie fühlte sich die Brust anders an. Meine Freundin sagte: „Du bist doch im Krankenhaus. Klär das ab!“

Wenige Tage später teilte mir eine Ärztin in der Rehaklinik mit, dass ich Brustkrebs habe. Ich dachte: Ist jetzt alles vorbei? Für einen Moment war ich erleichtert. Irgendwann ist auch gut mit dem Ankämpfen gegen den eigenen Körper. Irgendwann ist Schluss. Und wenn es so sein soll, dann soll es so sein. Aber dann dachte ich: Nein, so leicht gibst du nicht auf. Du hast den Blitzschlag besiegt, dieses kleine Knötchen in der Brust schaffst du auch noch. Der Tumor ist ein schwacher Gegner. Man kann ihn auf Röntgenbildern sehen. Man kann ihn ertasten er lässt sich herausoperieren.


Zwischen 100 und 200 Menschen werden in Deutschland pro Jahr vom Blitz getroffen. Im Jahr 2007 waren es 190 Verletzte und 6 Tote. Den meisten Blitzopfern geht es so wie Sieglinde. Sie überleben, aber sind von dem Blitzeinschlag stark beeinträchtigt.